Severin Groebners Newsletter
Bild Groebner mit Bleistift im Mund
Der neue Glossenhauer

16. Juni 2023

Der Fall Till Lindemann füllt die Schlagzeilen und so erfährt man, wie es bei den Rammelnden Steinen Backstage so zugehen soll. Auf den sozialen Medien oder aus dem Publikum des Konzerts würden junge Frauen von einer extra dafür angestellten Dame "gecastet", die die jungen Damen in Räume bringt, die den Charme einer Turnhallenumkleide haben sollen. Dort sollen Securitys, Ledersofas und alkoholische Getränke warten, von denen wohl das eine oder andere mit K.o.-Tropfen gestreckt gewesen sein soll. Das Ganze wäre generalstabsmäßig geplant und von Fachpersonal organisiert (die betreffende Dame etwa soll den gleichen Job beim Extremsympathler Marilyn Mason schon gemacht haben).

Jetzt ist die Aufregung groß, die Plattenfirma zieht sich zurück und der Verlag distanziert sich. Logisch, ist auch überraschend, dass der Sänger, der schon mal Gedichte schreibt, wie sehr er den Geschlechtsverkehr mit regungslosen Frauen schätzt, das auch privat praktiziert.

Aber es gibt auch Menschen (meist männliche), die meinen: Groupies, Drogen, Sex . . . Das sei eben "Rock’n’Roll". Das gehöre eben dazu.

Ein Argument von der Innovationskraft des Satzes "Des hamma immer scho so g’macht".

Und das ist so offensichtlich wie falsch.

Denn am Anfang des Rock’n’Roll-Business in den 60ern und 70ern waren Groupies vielleicht noch revolutionär. Sie kamen zu (z.B.) Jim Morrison, weil sie geil auf den Mann waren. Und das war damals neu und unerhört. Denn die weibliche Lust war damals in der westlichen Welt in etwa so bekannt wie die Rückseite des Mondes. Das erklärt vielleicht auch die Mondlandung 1969. Aber dafür war’s dann auch wieder die falsche Seite. So genau wollte es der raumfahrende Mann sichtlich doch nicht wissen. Das Revolutionäre, das Rock’n’Rollige am Groupietum war eben, dass auch der Mann ein Objekt weiblicher Begierde sein konnte. Die Frau als sexuelles Subjekt . . . das war die Revolution.

Dass der männliche Rockstar eine Menge von Frauen um sich scharen konnte, war hingegen nicht neu. Das hatten französische Könige und osmanische Sultane schon lange vor ihm getan. Der Serail war kein Zeichen von Rock’n’Roll sondern von Herrschaft, Potenz und Macht. Deshalb war der auch straff organisiert.

Und so ist das eben auch bei Lindemann so. Erstens geht es um Macht und zweitens: Der muss sich das organisieren lassen.

Wie erbärmlich ist das eigentlich?

Jeder Bahn-Fahrplan ist mehr Rock’n’Roll als diese organisierte Orgie. Denn da weiß man nicht, wann was wirklich kommt. Eine geplante Ekstase ist doch wie eine BDSM-Orgie im Kegelverein. Oder wie das allwöchentliche gegenseitige Auspeitschen im Schrebergarten. "Herr Müller, nicht vergessen, am Freitag ist wieder Oralsexparty, also bitte putzen Sie sich diesmal die Zähne! Und Mundwasser nicht vergessen! Herzlich, ihre Nachbarn."

Das ist alles nur ein Abklatsch längst vergangener frivolen Freiheiten. Eine in Posen und Riten versteinerte Rock-Attitude, die im Zeitalter des Internetpornos sich auf einer Bühne auf einen Penis setzt, um ins Publikum zu ejakulieren. Hui, so provokant wie eine Jahrmarktattraktion mit Zuckerwatte. Körperwelten mit Musikbeschallung. Feuchtes Kasperltheater für Schrittschwitzer.

So was ist das.

Aber eins sicher nicht: Rock’n’Roll.